Geschichtliche Spurensuche

Das frühmittelalterliche Kloster Lorsch in den Marchorten

von Thomas Steffens

Güterschenkungen und Ersterwähnungen im Lorscher Codex

Gegen Ende des 12. Jahrhunderts legten die Mönche des Klosters Lorsch im Rheingau ein umfangreiches Verzeichnis an. Darin notierten sie das Wichtigste aus jeder der vielen Schenkungs-, Kauf- und Tauschurkunden, die seit Gründung des Klosters im Jahre 764 im Archiv lagerten. So entstand eine der für uns wichtigsten Quellen zur frühmittelalterlichen Geschichte Südwest- und Westdeutschlands, der "Lorscher Codex (Codex Laurishamensis)". Er ist umso wertvoller, als die betreffenden Urkunden im Original nicht mehr erhalten sind.

Der Lorscher Codex verzeichnet insgesamt über 2000 Güterübertragungen an das Kloster, die meisten aus dem 8. und 9. Jahrhundert. Rund 80 davon, verteilt auf das Jahrhundert zwischen 769 und ca. 870, entfallen auf den Breisgau, und davon wiederum 12 auf die March. Einschließlich Hochdorf sind es vier Marchorte, die im Lorscher Codex erstmals erwähnt werden:

  • Buchheim kommt 769 als Bucheim vor, was "(Herren-)Sitz des Buc(h)o" oder auch "Sitz im Buchenwald" heißen könnte.
  • Hochdorf wird 772 Hochtorph ("hochgelegener Ort bzw. Gehöft") genannt.
  • Holzhausen heißt 849 Holzolveshusen, "Wohnstatt des Holtolf".
  • Neuershausen erscheint 788/89 als Niuvvericheshusen, "Wohnstatt des Nüwerich".

Die 12 Schenkungen, von denen viele in dichter Folge um 770 erfolgten, machen die March zu einem der Besitzschwerpunkte Lorschs im Breisgau. Weitere sind der Bereich um Mengen, Schallstadt und Biengen sowie das nördliche Markgräflerland zwischen Heitersheim und Müllheim. Weiter südlich gab es nur vereinzelt Lorscher Besitz. Hier erwarb im 8. und 9. Jahrhundert das Kloster St. Gallen zahlreiches Schenkungsgut. Auch der Kaiserstuhl war kein ausgesprochenes Besitzzentrum Lorschs, obwohl es in den drei wichtigen Plätzen Riegel, Bötzingen und Burkheim vertreten war. Im Kaiserstuhl insgesamt dominierten möglicherweise in dieser Zeit elsässische Klöster wie Murbach, Andlau, Ebersheimmünster oder das Bistum Straßburg.

Soweit die verkürzten Urkundennotizen im Lorscher Codex es erlauben, lassen sich aus ihm wichtige Informationen zur frühmittelalterlichen Besiedlung und zum damaligen Leben im Breisgau gewinnen. Dazu gilt es – wie folgt – den politischen Zeithintergrund des 8. und 9. Jahrhunderts und die damalige Rolle Lorschs mit einzubeziehen.  

Wie kam es zum Lorscher Besitz im Breisgau?

Im 4. Jahrhundert n. Chr. hatten sich die Alemannen im vorher römischen Breisgau festgesetzt. Sie mußten sich 495 den Franken unter ihrem König Chlodwig aus der Dynastie der Merowinger unterwerfen. Im 7. Jahrhundert konnten die Alemannen, begünstigt durch politische Wirren im Merowingerreich, ihre Selbständigkeit unter eigenen politischen Oberhäuptern (Herzögen) wieder stärken. Aber 746 wurden sie durch den königlich fränkischen "Hausmeier (Hofverwalter)" Karl Martell endgültig besiegt.

Mit anderen alemannischen Gebieten wurde auch der Breisgau, der "pagus Brisigowe", in der Folgezeit fränkisch verwaltet. Hier wie anderswo ließ Karl Martell das Gut unzuverlässiger alemannischer Adliger und Grundbesitzer einziehen; er gliederte es entweder dem Königsgut an oder übertrug es loyalen Besitzern. Ein größerer Teil der Grundherren im Breisgau waren seitdem wahrscheinlich aus Franken. Karl Martells Sohn Pippin setzte 751 den Merowingerkönig Childerich III. ab, ließ sich selbst zum König erheben und begründete so die Königsdynastie der Karolinger. Von seinen beiden Söhnen erlangte Karl 771 die Alleinherrschaft. Er wurde 800 in Rom zum Kaiser gekrönt und ist als "Karl der Große" in die Geschichtsbücher eingegangen.

Wie in allen fränkischen Gauen waren auch im neu unterworfenen Breisgau hohe königliche Beamte - Grafen - zur Verwaltung eingesetzt worden. Cancor, ein vornehmer fränkischer Herr aus dem Mittelrheingebiet, war um 757/58 einer der ersten Grafen, die im Breisgau amtierten. 764, nachdem er sich hier zurückgezogen hatte, stiftete er im heutigen Lorsch ein kleines Familienkloster, das er alsbald einem Verwandten, dem Erzbischof Chrodegang von Metz übertrug. Dieser vergrößerte die Abtei und ließ sie dem heiligen Nazarius weihen. Sie gewann rasch an Ansehen und wurde 772 von Karl dem Großen als Reichskloster unter königlichen Schutz gestellt.

Frühmittelalterliche Klöster waren stets auch Stützpunkte der hinter ihnen stehenden politischen Herrschaften. Mit seiner fränkischen bzw. königlichen Ausrichtung war Lorsch ein Vertreter der Karolinger. Diesen politischen Bezug muß man bei den ihm zugewandten Schenkungen im Auge behalten, auch bei denen im Breisgau. Sie kamen nicht nur dem Seelenheil der jeweiligen Schenker oder dem materiellen Wohl des Klosters zugute, sondern dienten auch der Befestigung königlicher Macht in der erst kürzlich annektierten Region.

Daß der Besitzzuwachs Lorschs im Breisgau so rasch vor sich ging, kann mehrere Gründe haben. Im Hintergrund stand sicher das Interesse des karolingischen Königtums am Breisgau. Das noch nicht lange zurückliegende Breisgauer Grafenamt des Gründers Cancor war dem Kloster sicher ebenfalls förderlich. Einige der Schenker an Lorsch sind möglicherweise – als Nutznießer der Enteignungen von 746 - erst durch ihn hier zu Besitz gekommen. Einige waren vielleicht selbst Franken. Es ist aber auch nicht nicht auszuschließen, daß einige Schenker Alemannen waren, die ihr Gut unter einem gewissen politischem Druck an Lorsch übereigneten. 

Die einzelnen Schenkungen in den Marchorten

Schauen wir uns die March betreffenden Einträge im Lorscher Codex einmal genauer und in örtlicher und zeitlicher Reihenfolge an:

Buchheim:

  • September 769: Gunzio und seine Frau Agna schenken eine Kirche mit Zugehörde;
  • Dezember 769: Richbald schenkt all seinen Besitz;
  • Juni 770: Ruther schenkt all seinen Besitz;
  • Mai 772: Gunther schenkt ein Gut mit einem Haus und anderen Bauten, ein "Tagwerk" (Morgen) Acker;
  • August 772: Eine Frau Munisuint schenkt all ihren Besitz;
  • Mai 775: Fridebert schenkt all seinen Besitz;
  • Mai 802: Ruther schenkt all seinen Besitz außer zwei Tagwerk, einer Mühle und einer Wiese.

Holzhausen:

  • Dezember 849: Ratbert schenkt einen Obstgarten (pomerium), acht Wiesen und einen Wald.

Neuershausen:

  • Mai 789: Wachilo schenkt ein "Haus" (casa) mit Ackerland, Wiesen, Weinbergen, Wäldern und Gewässern;
  • Oktober 789.Hadager schenkt all seinen Besitz;
  • Mai 794: Wenilo schenkt ein Gut mit Haus und anderen Gebäuden und was er sonst an Besitz hat.

Einen Sonderfall stellt der Grundbesitzer Buho oder Baducho dar. Er hatte schon 770 Gut und Eigenleute in Staufen, Biengen und Gisenwilre - bis heute unbekannter Ort - an Lorsch übertragen. Im Oktober 772 (oder auch 773) schenkte er dem Kloster seinen übrigen Besitz in diesen Orten und dazu all sein Gut in Ebringen, Hochdorf, Buchheim, Hartheim und Reuden (Reute). Das waren viele Hofstellen, Wiesen, Weinberge, Wälder, Gewässer, Wohnhäuser und andere Gebäude sowie insgesamt 30 unfreie Leute mit ihren Hufen.  

Die Marchorte im 8. und 9. Jahrhundert

Zunächst einmal zeigen die Lorscher Notizen, daß fast alle Marchorte - Hugstetten ausgenommen - nachweislich zwischen 769 und 849 bereits bestanden. Der relativ kleine Raum um den südlichen Nimberg war schon verhältnismäßig dicht besiedelt. Zumindest einige der hiesigen Orte waren gegeneinander abgegrenzt; im Falle von Buchheim und Neuershausen wird jeweils von der marca (Gemarkung) gesprochen. Holzhausen wird als villa (Dorf oder Gutshof) bezeichnet, was aber nicht unbedingt das Fehlen einer Gemarkung bedeutet.

Im übrigen war die March bereits eine Kulturlandschaft mit Äckern, Wiesen und Weinbergen. Das 849 in Holzhausen erwähnte pomerium lässt auf kultivierten Obstbau schließen. Auch der Wald und die Gewässer waren offenbar schon unter einzelne Besitzer aufgeteilt. Möglicherweise hatte man von hier aus auch schon die östlich anschließenden Waldgebiete an der Glotter besiedelt. Darauf könnten die 772/73 erwähnten Reuden (Rodungssiedlungen) hinweisen, mit denen wohl Ober- und Unterreute gemeint sind.

Was läßt sich über die Schenker an Lorsch selbst sagen? Jedenfalls müssen es freie Leute gewesen sein, die über ihren Besitz selbst verfügen konnten, sonst wäre ihnen die Schenkung nicht möglich gewesen. Genaueres über ihre Stellung in der damaligen Gesellschaft wissen wir freilich nicht. Einige von ihnen waren wohl nur kleine, wenn auch freie und geachtete Grundbesitzer. Die Notizen im Codex erwähnen Hofstellen mit Wohnhäusern, in denen neben den Besitzern sicher auch unfreie Leute (mancipia) als deren Gesinde lebten.

Offenbar gab es unter den Schenkern aber auch Angehörige einflussreicher adliger Familien, die nicht nur in der March begütert waren, sondern auch sonst im Breisgau oder sogar darüber hinaus. Dazu könnte der bereits erwähnte Buho oder Baducho gehört haben, dessen Besitz vom Nimberg (Buchheim, Hochdorf, Reute) über das Schönberggebiet und den Schwarzwaldrand bis in den mittleren Breisgau verstreut lag. In den oben genannten Orten schenkte er an Lorsch zahlreiche Hofstellen mit Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, Nutzländereien, Wälder und Gewässer sowie 30 Unfreie mit ihren "Hufen". Das waren Bauerngüter, die B(ad)uho seinen Leuten verliehen hatte. Anzunehmen ist, daß letzterer noch mehr Eigentum besaß, das er nicht an Lorsch übergab.

Was der Lorscher Codex – im Gegensatz zu den Originalurkunden - nicht erwähnt, sind die Bedingungen einer Schenkung. Oft dürften es "praekarische" Schenkungen gewesen sein. Dabei wurde das Kloster zwar Eigentümer des Besitzes; der Schenker und seine Nachkommen erhielten diesen jedoch gegen einen jährlichen Zins wieder zurück. Wenn also z. B. 769 Richbald oder 789 Hadager "all ihr Gut" in Buchheim bzw. Neuershausen übergaben, heißt das nicht, dass sie es damit wirklich aufgaben. Manchmal haben Leute, die von Mächtigeren bedrängt wurden, ihr Gut "praekarisch" an ein Kloster vergeben, von dem sie einen gewissen Schutz erwarten konnten.  

"Zentralort" Buchheim?

Beim Gütererwerb des Klosters Lorsch im Breisgau hat offenbar die marca Bucheim (Gemarkung Buchheim) eine wichtige Rolle gespielt. Das hier begüterte Ehepaar Gunzio und Agna gehörte im September 769 zu den allerersten Schenkern. In der Gesamtzahl der Schenkungen liegt Buchheim mit acht Fällen an zweiter Stelle hinter Biengen (12). Auffällig dabei ist:, dass sieben davon in der vergleichsweise kurzen Zeit zwischen 769 und 775 erfolgten. Lassen sich daraus Schlüsse ziehen? Waren die hier begüterten Leute Lorsch besonders zugetan?

Buchheim wurde sicherlich schon früh besiedelt. Funde im Feldgewann "Retzgraben" westlich des Ortskerns zeigen, dass dort schon um 300 n. Chr. frühe Alemannen gelebt haben. Auch der Ortsname mit seiner Endung auf -heim weist auf eine frühe Entstehung hin. Die historische Namenforschung deutet diese Endung außerdem als Indiz für einen (fränkischen?) Herrenhof, der nach 500, also nach Unterwerfung der Alemannen durch das merowingische Frankenreich, hier entstand.

Der erste Besitz, den Lorsch in 769 Buchheim erhielt, war die Gunzio und Agna gehörige Kirche. Von ihr lässt sich sicher keine direkte Verbindung zur Buchheimer Pfarrkirche ziehen. Sie war eine "Eigenkirche", die das Ehepaar - oder seine Vorfahren – zunächst für seine Familien- und Hofangehörigen erbaut hatte. Gunzio und Agna unterhielten sicher auch den dort amtierenden Priester. Damals, als es noch keine Pfarrorganisation gab, war das nicht ungewöhnlich.

Diese frühe Kirche könnte ein geistliches Zentrum auch für die nähere Umgebung gewesen sein. Es wird ja angenommen, dass sich die übrigen Orte der March als sogenannte "Ausbausiedlungen" von Buchheim aus entwickelt hatten, vielleicht sogar anfangs noch innerhalb von dessen marca lagen.

Wahrscheinlich diente die Buchheimer Kirche nach ihrem Erwerb durch Lorsch nicht nur als Gotteshaus, sondern auch als eine Art Verwaltungszentrum. Die Priester, die fortan vom Kloster eingesetzt wurden, konnten ja in der Regel lesen und schreiben, was damals selbst bei hochrangigen Leuten nicht immer der Fall war. Das Kloster St. Gallen hat in dieser Zeit den ihm gehörigen Kirchen – etwa Wittnau – einen solchen Nebenzweck zugewiesen.

Jedenfalls gibt es Anhaltspunkte dafür, dass Buchheim in der Folgezeit eine rechtliche Mittelpunktsrolle erhielt – sofern es diese nicht schon hatte. Das geht nicht aus den Lorscher Notizen hervor, sondern aus zwei St. Galler Urkunden. Die eine wurde 788 in Benzhausen bei Hochdorf ausgestellt. Sie vermerkt, dass dieser Weiler (vilarium) rechtlich zur marca Bocheim gehöre. Und 804 wurde in Buchheim eine Schenkung an St. Gallen verhandelt, die ein Gut in Hochdorf betraf.

Es weist also einiges darauf hin, dass Buchheim schon vor 769 eine besondere Stellung am südlichen Nimberg innehatte, die vom Kloster Lorsch offenbar weiter ausgebaut wurde. Die herrschaftlich-politische Hintergründe kennen wir freilich nicht. Lag hier vielleicht schon seit der Merowingerzeit ein Stützpunkt des fränkischen Königtums? Hat dieses die mehrfachen frühen Schenkungen an Lorsch veranlasst?  

Das ungewisse Schicksal des Lorscher Besitzes

Hundert Jahre nach seinem ersten Gütererwerb war das Kloster Lorsch in Buchheim immer noch ein bedeutender Grundherr. Ja, es hat 878/79 seine Stellung ausgebaut, als es vom Kloster Offoniswilere (Schuttern) ein größeres Gut eintauschte. Möglicherweise hat es aber den geringeren Besitz in Holzhausen und Hochdorf abgestoßen.

In einem Anhang zum Lorscher Codex, der sogenannten "Hubenliste" von ca. 900, werden sechs Huben (Höfe mit Land) in Buchheim und Neuershausen aufgeführt. Sie waren einer "Herrenhube" untergeordnet, die in Buchheim zu vermuten ist. Es handelte offenbar sich um einen für die Zeit typischen "Fronhof" mit den zugehörigen Anwesen. Er wurde im Auftrag des Klosters von einem "Meier" geleitet, der das direkt zum Hof gehörende "Salland" mit Hilfe unfreier Arbeitskräfte bewirtschaftete. Auf dem Fronhof gab es auch Schmieden, Webhäuser und andere Werkstätten.

Die sechs einfachen Huben waren an Bauernfamilien vergeben. Diese wirtschafteten selbständig, waren aber an den Fronhof gebunden. Sie unterstanden seinem Gericht, mussten unentgeltlich arbeiten - "fronen" - und Abgaben leisten. Von jeder der Buchheimer und Neuershauser Huben erhielt Lorsch jährlich dieselbe Menge an Bier, Getreide, Jungschweinen, Hühnern und Eiern.

Wie lange die Lorscher Fronhof danach noch bestand, wissen wir nicht, da weitere Nachrichten fehlen. Offensichtlich hat das Kloster seine Stellung nicht über das 10. Jahrhundert hinaus halten können. Politische Veränderungen im Reich zogen auch im Breisgau einen Wandel der Herrschafts- und Besitzverhältnisse nach sich. Auch nahm die Bedeutung Lorschs als geistliches Zentrum in dieser Zeit rasch ab. Es ist zu vermuten, dass es den weit entlegenen Besitz in der March – und überhaupt im Breisgau – aufgegeben hat oder dass er ihm entrissen wurde.

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